Vor 20 Jahren war ich seit ein paar Monaten bei tagesschau.de. Am ersten Weihnachtstag hatte ich als junger Mitarbeiter Nachtdienst, zusammen mit einer Studentin, und war für die Nachrichten im Web und ARD-Text zuständig.
Um 0:58 Uhr UTC ereignete sich Tausende Kilometer entfernt etwas, das mich diese Nacht nicht vergessen lässt. Zuerst war es nur eine Eilmeldung über ein Erdbeben. Von ungewöhnlicher hoher Stärke, aber wie üblich mit kaum Details, und sehr weit entfernt, in Indonesien, wenn ich mich richtig erinnere. Dann kam die zweite Agenturmeldung.
„Mindestens zwei Agenturen“ war damals die Grundregel für eine eigene Eilmeldung bei tagesschau.de. Aber welchen Inhalts? Details fehlten weiterhin. Und Erdbeben gibt es häufiger. Aber das Programm ging los: Erst Videotext, dann Web, eine kurze Meldung.
Was machten die anderen? Viel Orientierung gab es in dieser Nacht nicht: tagesschau.de war damals die einzige rund um die Uhr besetzte Online-Redaktion. Beim Deutschlandfunk und NDR Info liefen, leicht verzögert, die Radio-Nachrichten ein.
Inzwischen gab es weitere kurze Agenturen, auch mindestens eine von der anderen Seite des Indischen Ozeans. Was ich noch nicht sah: Eine Überblicksmeldung, die alles erklärte. Stattdessen, 2004, das erste Mal dieses Wort: „Tsunami-Warnung“. Tsunami? Tsunami? Was war das noch mal?
Also fasste ich die verschiedenen Agenturmeldungen, so sparsam sie waren, in einem lückenhaften Artikel zusammen. „Vor Indonesien … in Indien“. Sollte dieses sparsame Meldung nun ganz oben auf die Seite und den sorgsam komponierten Feiertagsaufmacher verdrängen? Und als Bild?
Der Aufmacher blieb. Die Lage, so meine Einschätzung damals, war einfach zu übersichtlich, um das volle Besteck auszupacken: E-Mail-Telegramm an tausende Abonnenten verschicken, die Alarmkette aus dem Golfkrieg aktivieren, den Chef am zweiten Weihnachtstag aus dem Bett klingeln.
Also blieb ich weiter an den Agenturen, arbeite die spärlichen Informationen ein, die nachkamen. Irgendwann auch die erste Meldung über eine Überschwemmung in einer Stadt. Und ich war heilfroh als die erfahrene Frühschicht-Kollegin zum Dienst erschien: „Soll ich noch bleiben?“
Zwei Tage später war ich wieder im Dienst. Von Ruhe zwischen den Jahren keine Spur, alle vorhandenen Kollegen arbeiteten auf Hochtouren. Jetzt gab es auf einmal auch ganz viele Bilder – auch vom Tsunami selbst.
Wegen des Ausmaßes der Katastrophe und betroffenen Touristengebieten waren es wahrscheinlich mehr Fotos und Videos jemals zuvor bei einem solchen Ereignis. Digitalkameras wurden gerade Mainstream, Fotohandys waren noch sehr neu.
Was es beim Tsunami 2004 noch nicht gab: Soziale Netzwerke mit der Reichweite von heute als Hubs für User Generated Content. Fotos und Videos fanden erst nach und nach ihren Weg ins Netz, über Online-Medien, Blogs und hastig erstellte Sammlungen von Organisationen oder privaten Websites.
Auch die Nachrichtenagenturen lieferten jetzt Unmengen Bilder von den Folgen des Tsunamis in die Redaktionscomputer, wo wir sie sichteten. Selbst unter diesen bereits redaktionell gefilterten Fotos waren verstörenden Aufnahmen – sowohl als Einzelbild als auch in der Masse.
Einmal hatte ich in der Tagesschau-Redaktion eine Anruferin am Telefon, die sich erkundigte, ob wir ein Foto noch in einer größeren Auflösung hätten. Sie glaubte, in einem der abgebildeten Opfer ihren Mann erkannt zu haben.
Das sind Erinnerungen, die auch nach 20 Jahren noch bleiben. Was es nicht mehr gibt: Meine allererste Kurzmeldung zum Beben. Die war bereits am ersten Tag im CMS mehrfach überschrieben worden und der nächtliche Zeitstempel dem Vergessen anheim gefallen.
(Diese Erinnerungen habe ich 2019 bzw. 2020 erstmals auf Twitter gepostet.)