„Der Mormone Romney gilt als Favorit, …“ (Die Welt), „Die Rückkehr zur Drachme gilt als Horrorvision“ (Die Presse), die Stadt Radda im Jemen „gilt als wichtiger Transit-Knotenpunkt“ (Spiegel Online) und der Berliner Hauptbahnhof als „Meisterwerk der Ingenieure“ (Tagesspiegel).
Aber „gilt als“ gilt als ist in dieser Form schlechte Journalistensprache.
Im besten Falle bedeutet ein nacktes „gilt als“, dass der Schreiber/Sprecher zu faul ist, genauer anzugeben, für wen oder unter welchen Voraussetzungen A als B gilt. „Jüngsten Umfragen zufolge“? „In der gesamten Branche?“ „Unter rothaarigen Polizisten mit Fußballinteresse?“ „Laut FAZ“ oder „Wikipedia zufolge“?
Häufig soll das „gilt als“ aber verschleiern, dass es gar keine nähere Quelle für diese Einschätzung gibt – oder dass sie verschwiegen wird, weil der Schreiber/Sprecher ihr selbst nicht traut. Ein „gilt als“ – diese leichte Distanzierung verleiht dem Journalisten den Anschein von Objektivität, während zugleich die beschriebene Zuschreibung durch nicht näher definierte Autoritäten schon fast umumstößlich ist. Sehr bequem – so wie die berühmt-berüchtigten „politischen Beobachter“, die der Journalist im Zweifel alles sagen lassen kann, was er will und sich unter eigenem Namen nicht traut.
Das Publikum hat keine vagen „gilt als“ verdient. Stattdessen sollten Journalisten ihm sagen, wer genau etwas so betrachtet, oder noch besser, wie etwas ist. Oft genug sind die Fakten offensichtlich: In einem bestimmten Wahlkreis war die SPD historisch immer erfolgreich, in einer Region Afghanistans, in der Anschläge und Kämpfe stattfinden, sind die Taliban stark – alles Gerede von „gilt als Hochburg“ verschleiert das nur. Einordnung statt Verschanzen hinter falscher Objektivität.
(Und jetzt Daumendrücken, dass mich jetzt niemand an eine eigene „gilt als“-Sünde der Vergangenheit erinnert).
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